Erzählungen

Roger Loewig: Erzählungen

 

Gelb (1976)

Noch einmal treffe ich den Freund aus dem anderen Leben. Er reicht nicht mehr herauf in mein gegenwärtiges, räumlich von ihm abgeschnittenes Leben, in die hohle Zeit, wie ich es nennen will, die am Anfang vor der letzten aufklafft. Wir gehen den Strand entlang, meinen Kindheitsstrand, für mich jetzt der Strand aus einem noch tiefer zurückliegenden Dasein, in dem bereits alles durcheinander gerät und zerfließt, und wenn etwas von dort unten Konturen annimmt, bin ich nicht sicher, ob sie mit den einstigen Bildern und Ereignissen übereinstimmen. Die Doppelschärfe, in der man oft Erinnerungsbilder zu sehen meint, mag ebenso oft täuschen. Sollte vielleicht mehr Wahrhaftigkeit im Verschwommenen und in dem sein, was wir in ihm zusammenrühren, als in den festen Gedankenmeteoren, die aufblitzen und zu schnell durch unsere Stirn schießen?
Wir stapfen träg am Wassersaum dahin, Arm in Arm, denn immer, wo wir heute gehen, hängen Abschied und Trennung in der Luft als sehr müde, schwermutgeladene Wolken. Unter solchem Himmel beeilen wir uns nicht.
Ich denke an das Kind Johanna. Helläugig und blond, zu helläugig, zu blond – beides passt nicht in das fremde Volk, dem es entstammt, einem östlicheren –, wirbelt es ganz überflüssig durch meine Gedanken, die auch ohne das auf Irrböden tanzen. Das Kind ist mir sehr zugetan, für wenige Tage, und für wenige Tage antwortet dem neunjährigen Mädchen meine Zuneigung. Sie begreift das, begreift das wohl mehr und richtig mit den Händen, die wir gebrauchen müssen, um uns zu verständigen, da einer des anderen Sprache nicht mächtig ist.
Johanna taucht in den Nebel, der den Strand herankriecht, und verblasst. Höher und deutlicher wächst der Freund an meiner Seite, übergenau gezeichnet mit den spitzen Pinseln der Feuchtigkeit. Aber nach außen sehen wir nur knapp fünf Schritt. An so dichten Nebel am Strand mitten im Sommer kann ich mich nicht erinnern. Manchmal springt der Nebel zurück und schleicht wieder heran, eine behutsame Macht, die kommt, um uns zu warnen.
Und dann finden wir zwischen zwei Buhnen, an eine grelleuchtende Schwimmweste geschnürt, den Ertrunkenen. Wir bemerkten zuerst die quittegelbe Wulst und hielten sie für ein treibendes Kissen. Leicht schaukeln den Toten die Wellen, schieben ihn auf den Sand und zerren ihn wieder weg, spülen durch den geöffneten Mund und lassen Lippen und Wangen sich wölben und einfallen. So atmet kein Lebender, so atmet nur das Meer in denen, die es sich holte. Der Mann ist unverkennbar ein Japaner. Leibesfärbung, Größe und Gesichtsschnitt verraten es. Die Augen hat der Tote weit aufgerissen, sie blicken an uns vorbei in den Nebel.
Man wird ihn entdecken, man wird ihn abholen, man wird erfahren, wer er war, oder auch nicht. Hier ist nichts zu ordnen, zu ändern, zu helfen. Gelb ist alles: Der Ertrunkene, seine Augäpfel, der Strand, der Nebel. Und wie wir uns ratlos umdrehen, vergilben wir auch.
Später fahre ich mit dem Freund zum Bahnhof, unsere Zeit lief ab.
Am nächsten Tage gehe ich noch einmal zum Strand, zu meinem Kindheitsstrand. Ich erkenne die See nicht mehr. Was gestern Wasser war, ist heute gelbbrauner Schleim. So müssen Brandung und Wogen auf dem Acheron sein: Ein riesenhafter Strom aus zerknitterten, schwach wehenden Schmutztüchern. In diese See zieht es keinen mehr, und wer trotzdem hineinwatet, zerfällt in ihr zu Teigklumpen.
Gluthitze quält die Halbinsel. Ihr dichtbevölkerter Badestrand ringt nach Luft. Aber an baden ist nicht mehr zu denken.
So dösen sie alle, die ans Wasser Gereisten, vor sich hin, nicken ein und werden zu Schläfern und gelb wie der Sand und braungelb wie der Schlamm, der sich langsam auf sie zu bewegt.
Veröffentlicht in: Roger Loewig: Unter den Häuten der Stadt. Erzählungen. Berlin 2004

Notwendige Nachricht (1970)

Breit ausgestreckt liegt hier noch das Land, Waldland, Hügelland mit Wiesen- und Getreidefelderbrüsten, mit atmendem Erdebauch, mit Blumen- und Sträucherbehaarung, geöffnet allein den Vogellungen und dem Gewitterhimmel. Irgendwo, aber hier vergessen, rauchen die großen Städte in den Achselhöhlen der gequälten Mutter Erde.
So durchfuhr ich auf einem zweirädrigen Benzinvehikel an einem der losgerissenen Einzeltage aus dem Rudel der belanglos anderen diese Landschaft, von knappen Stunden gehetzt, die keine Zeit haben für langsames Zufußwandern, und bog zum eigenen Heil oder Unheil – das wird man immer unentschieden herumtragen –, der Straße überdrüssig, in einen der Feldwege. Solches Fahren gibt Blick und Kopf frei nach allen Seiten; dummer Pferdeersatz; eben auch das Ersatz, wo doch schon alles Ersatz ist, was man als echte Ursprungsform einst liebte.
Neben unkrautüberwachsenen, nur noch selten genutzten alten Chausseen trafen und gabelten sich die grünen Dämme außer Dienst gesetzter Eisenbahnstrecken. Verrostet ragten Schranken, Lichtmaste, Signale, mauerbrüchig und zerschlissen geisterte das Stellwerk mit weißem Augennasenhöhlengesicht aus tiefblauer Schwüle. Jäh endete der Weg vor einem Wall, dahinter streckte ein totes Gleis die krummen Füße gegen Holzblöcke. Inzwischen hatten sich Wolken zu düsterschweren Riesensegeln zusammengeballt.
Jenseits des Walles und des Gleises stand ein winziges verwittertes Häuschen, zugesponnen von den Zweigen niedriger Bäume. Es glich den gekalkten Aborten, wie man sie manchmal bei Strandaufgängen an der Küste entdeckt oder in der Nähe ländlicher Sportplätze.
Vor mir ein verstellter Weg, im Nacken das drohende Gewitter, und hier lockte das schützende Dach. Und wie truglockte es mich!
An dem Bahnwärterhaus klebte noch, jetzt erst sichtbar, ein schiefgerutschter Schuppen. Fliegenschwärme, aufgestöbert vom Mittagsmahl – sie hatten das Aas eines im Schuppen krepierten Tieres betupft –, erkannten ihre neue Beute, gerieten in Verzückung und sangen. Sie durchquirlten mir den gestaltlosen Rauch von Reife und Fäulnis, von Moder und schwitzendem Holz zum Erinnerungshauch versunkener Städte, Dorfteiche und Misthaufen.
Die Tür des Hauses war verschlossen und vernagelt, das Fenster zerbrochen. Im Inneren sah ich einen Tisch und einen Stuhl, beide vom Nichtgebrauch verdorben. Auf dem Tisch lagen Schrauben, Schlüssel, Staub, Steine, stand ein mit Spinnennetztrapezen umseilter Telefonapparat. Das alles gehört in ein Signalhaus, das ist nichts Besonderes.
Das Land verfinsterte sich.
Schön sind Gewitter über dieser Landschaft. Sie rollen lange hin und zurück. Plötzlich geben sie das Zeichen zur Schlacht. Schwarze Sturmwolken galoppieren herunter, verschießen prasselnde Regenpfeile und krachende Schwerterblitze. Die hauen auf Felder und einsame Bäume ein, auf Dörfer und Windmühlen, auf starrsinnige, vierschrötige Kirchen. Man muß nur ein Dach über dem Schädel haben, eine Ecke, in die man sich verkriechen kann, von der man geschützt hinausspähen vermag in den Weltuntergang.
Ein Dach hatte ich jetzt, wenn auch nur ein kleines und verborgenes. Das glasentblößte Fenster konnte zur Not als umständliche Tür gelten.
Aber beim Einstieg in die Nottür, in eben dem Moment, als ich den Fuß über die Wand heben wollte, schrillte das Telefon.
Das teuflische, in festbemessenen Zeitabständen auftönende Wimmern einer Telefonklingel in einem lang ausgedienten Eisenbahngleise, unter einem kurz vor dem Bersten angelangten dunklen Himmel und zwischen den Blütenhügeln des Mitsommerlandes, das war zuviel. Zuviel für jede Abenteuerlust, für jeden Entdeckergeist. (Die hätten sich auch schon in die versunkenen Gegenden der Jugendträume zurückgezogen.) Außerdem, und das stieß an keinen Rand möglicher Zweifel, galt das Läuten mir. Wem sonst?
Ich fand weder den Mut, weiter in das Häuschen einzusteigen, noch den Mut, einfach in das Fenster langend, wenigstens den Hörer abzunehmen. Ich rannte zurück zum Weg und jagte mitten in das Gewirr den Straßen zu nach Hause.
Wochen später, ich saß wieder bei der Arbeit, nachts, im engen Stadtzimmer, begriff ich endlich. Eine versunkene Nacht, aus Erinnerungsströmen aufsteigend, durchflutete diese, und jene Nacht war ich bei einer verehrungswürdigen alten Frau zu Besuch. – Schon oft davor bin ich ihr Gast gewesen, schon längst verbindet uns Freundschaft. – Sie hütete und bewachte, im Dachgeschoß der kleinen Gertrudenkapelle zu G. hausend, seltene Kostbarkeiten: die berühmten Bronze-, Ton- und Holzfiguren eines großen Meisters. Alles dort lag immer außerhalb jeder Zeit und jeder Tagesgesetze und ebenso auch vieles unserer Unterhaltungen. In der letzten, die erst wie manchesmal mein Aufbruch zu weit vorgerückter Stunde beendete, versprach sie, mir Nachricht zu geben, sähe sie mich einmal in Not, die ich nicht mehr erkennen könne.
Bald nach ihrem Tode musste das Versprechen eingelöst werden. Sie rief mich an, tief im Sommer, tief im Vergessen, um mich zu wecken, weil ich einzuschlafen drohte auf meinen Wiesenhügeln zwischen Ginsterblüten und Löwenzahn.

Zu „Notwendige Nachricht“:
Gemeint ist die Lebensgefährtin Ernst Barlachs. Sie war bis zu seinem Tode im Frühjahr 1969 treue Beschützerin der in der Güstrower Gertrudenkapelle aufgestellten und aufbewahrten Werke des Bildhauers und Dichters. Ohne ihre Hilfe und aufopferungsvolle Hingabe an die Arbeit Barlachs wäre dem großen Formenschöpfer wohl manches in seinen späten auswegslosen Tagen während der Herrschaft der Nationalsozialisten sehr schwer gefallen.
Marga Böhmer ruht jetzt namenlos – wie sie es sich wünschte – auf dem Friedhof in Ratzeburg neben Ernst Barlach.
R.L.

Veröffentlicht in: Roger Loewig: Unter den Häuten der Stadt. Erzählungen. Berlin 2004