Gedichte

Roger Loewig: Ausgewählte Gedichte

 

Wir haben das Bersten des Himmels erhofft

Wir haben das Bersten des Himmels erhofft
Ein blaues Geäder im Aug
Und die Zeit gespart und den Atem gerafft
Und die Knochen gebläht zu Flügeln auf

Ewigkeit rollt noch die Hügel hinab
Als Märzlüftehauch als Gefangnengesang
Und steigt noch mit Monden zum Erdumlauf
Und findet uns unheilbar krank

O Ikarus

Oh Ikarus,
um deinen Flug
beneid ich dich
um deinen Sturz.

Wem das gelingt,
aus eigner Kraft,
mit selbstgebau-
tem Flügelpaar

den Käfig zu
vertauschen mit
der Wolkenbank,
soll der sich fürch-
ten vor dem Sturz?

Wir liegen hier
seit Anbeginn
gestürzt, und kein
Gefieder öff-
net sich zum Flug.

Ich liebe die graue Herbstnacht

Ich liebe die graue Herbstnacht,
die Büßerin in der Regenkutte.
Ich liebe die winzigen Geschöpfe,
die der Ozean in Steine verwandelte
und die mich überdauern werden.
Ich liebe alles,
was weht, braust und brandet,
alles, was fliegt.
Ich vergesse dann meine Fesseln.

Ikarus liebe ich.
Seinen Sturz erleide ich so oft selbst.
Ich liebe Odysseus,
den unsteten,
verschlagen von Stürmen,
den immer listenreich streitenden,
die Rückkehr endlich noch erzwingend.
Ich habe meine Heimkehr noch nicht verdient.

Ahasver liebe ich und Christus,
die ruhelosen Wanderer,
die unbeugsamen Dulder,
jenen,
der sein Schicksal verflucht und gezeichnet ist,
diesen,
der gezeichnet ist und das Kreuz aufnimmt.
Ich liebe die Träumer und die Trotzigen.
Mein Herz schlägt seltener für den Sieger
Als den Besiegten.

 

Heut auf dem Weg nach nirgends

Heut auf dem Weg nach nirgends,
Fäuste am Mund als Sprachrohr,
ruf ich von frierenden Türmen
noch einmal die Liebe herab.
Locke die Züge der Vögel,
aus südlicher Landschaft hierher,
brülle Tore in Mauern,
sauge Flüsse durch Sümpfe,
daß sich des Durstes alle
mögen erinnern, der Sehnsucht.

 

Brich auf mein schöner vogel nacht

Brich auf mein schöner vogel nacht
diesen weg trägt dein gefieder dich nicht
deine dunklen schwingen schleifen nach im staub
und zu schmerzen anfangen deine großen augen
versag dir sie zu schließen
laß sie ausbluten
steinerne augen müssen dir wachsen
neue flügel abschüssig und schwer wie gruftgewölbe
und federn aus blei
brich auf der wind treibt dich der rauch steigt
schlepp dich hinter die sümpfe
hinter die knochenbaumwälder
hinter die skelettberge
hinter die salzmeere
immer unter einem himmel
aus glasigen gehirnen
die das licht trüben
schlepp dich durch leere flußbetten
durch trocknen schnee
durch taube asche

bei schorfendem hagel
bei sturm bei eis
zu den gruben mit den geöffneten leibern
mit nieren därmen lungen
zu den gräben mit ausgebrochenen schenkeln
armen füßen händen
wate durch die organe des zeugens und des gebärens
durch verschüttete zerfetzte herzmuskeln
durch das wehende weißhaar der mütter
schlepp dich über die ebene entaugter köpfe
enthirnter schädel schreientblößter kehlen
und raste für einen atemzug neben dem zaun
wo körper an körper die kinder liegen
seit dem morde zu bethlehem seit auschwitz seit gestern
bedecke mein schöner vogel nacht mit deinen flügeln
sie alle
in deine fänge lege ich diese welt
die ich nicht erdacht habe und nicht geformt
immer durch dichtgenähte wimpern aber sticht sie in mein herz
daß ich den schuldigen gleich hinstürzen solle
wie vom richtbeil gefällt

 

Schwäne erfriern

Schwäne erfriern
Flüsse sind Eis
Haß wächst in mir,
Tod greift nach mir,
Aber du bist da.

Angst höhlt mich aus.
Nichts ist in mir.
Nichts kann mehr sein.
Wege sind aus.
Aber du bist da.

Tag fällt und fällt,
Schnee wächst und wächst,
Staub hüllt den Mond.
Alles ist nackt.
Aber du bist da.

 

Immer schleicht der wolf mir nach

Immer schleicht der wolf mir nach
manchmal vergesse ich ihn
aber er ist da
ich spüre seine nähe
durch die träume höre ich
das flappen der lefzen
das schlappen der zunge
das keuchen des atems
die zähne schlägt er
in meine gedanken
ums maul wehen ihm
die fetzen von hoffnungen
die ich hegte
das zerrissene gespinst zuversicht
das ich mir bewahrte
bis gestern

heut in den herbstlaubverklebten straßen
stehe ich ihm gegenüber
mit nackten fäusten
und bloßer stirn
für ihn ist meine brust schon geöffnet

dieses herz
nur ihm sichtbar
gefüllt mit jeder sehnsucht
und müdegehämmert
im tagauf und tagab
bleierner jahre

dieses herz
läßt ihn zittern vor entzücken
versetzt ihn in blinde raserei

noch ist der abend warm
und die nacht ohne krallen
noch gibt es gassen winkel häuser
die mich schützen

aber morgen
weiß ich mich nicht mehr zu retten
morgen
wenn der frost bohrt
wenn der schnee mein letztes versteck verrät
dann
werden wir kämpfen
einen ungleichen aussichtslosen kampf

 

Mich locken die langen die dunklen bangen alleen

Mich locken die langen
die dunklen bangen
alleen

ich möchte ihr ende nicht kennen
nicht wissen wohin sie verrennen
woher sie entstehn

nach einem seitlichen graben
da will ich sie über mir haben
wie plötzliche nacht

sie sollen sich über mir schließen
mich zeitig mit blüten begießen
und spät dann mit schnee

ich kann sie nicht gänzlich durchlaufen
denn irgendwo muß ich verschnaufen
und abseits vergehn

mich locken die langen
die dunklen bangen
alleen

 

Giftstachelige Gaze

Giftstachelige Gaze,
die Mückenrauchvorhänge,
weht an den Wiesensträuchern.
Im Sumpf daneben brütet
spätsommerliche Schwermut.
Und Heere blinder Würmer
zerstechen schwarzes Holz,
durchbohrn das Riesenhaupt
auf totem Sockelstamm.
So ragen die Signale,
die Schiffen Zeichen geben,
inwendig ausgehöhlt.
Verirrte Wasser wecken,
wenn sie sich landwärts dehnen,
im braunen Tangkraut Fliegen.
Und übera1l sind Hügel
von ausgehauchten Kiemen,
zerknickten Kaferbrüsten,
von weggeworfnen Flügeln.
Solang die Helle dauert,
bleibt diese Welt noch ganz.
Noch fliegt das a1les geisternd
mit blanken vo1len Segeln,
mit schi1lernd bunten Häuten,
die Winzigbeine rudernd,
die Kugelaugen glühend,
und schleppt zum Heim die Beute:
mein Blut und meinen Schlaf,
zu trügerischem Hause;
denn frühe Stürme streuen
in Wohnungen des kleinsten
Gewürms, der Tausendgliedler ,
der fluggeübten Zwerge
das scharfe, feuchte Salz.

 

Noch bleibt die Narbe quer durchs Land

Noch bleibt die Narbe quer durchs Land.
Nach Jahr und Tag wird Erde, Sand,
Gebüsch und Gras darüberziehn
und sie dem Auge bald verbergen.

Hier sollen nie mehr Menschen fliehn
und niemals wieder Tränen fließen
und nie mehr Mauern stehn – und Schergen
nie wieder unser Blut vergießen
auf streng geheime Schießbefehle.
Die Schnitte aber in die Seele
vernarbten nicht. Aus dem Gelände
sind Turm und Graben und sind Wände
und Flucht so leicht nicht wegzuschieben.

Was gestern hier war und was drüben,
berührt heut weder Fluß noch Strand,
und von dem Risse quer durchs Land
ist eine Narbe nur geblieben.

 

Daß mir nur dieses eine bliebe

Daß mir nur dieses eine bliebe,
nur dieses schlimme deutsche Land,
das ich So hasse, das ich liebe,
an das ich eisig festgebrannt.

Ich bin in ihm so fremd wie keiner
und bin ihm doch so blutsverwandt,
So zugehörig, wie nur einer,
der ganz in einen Zorn verrannt,

der ganz in Schattengründen nächtigt,
der niemals einen Fluch vergißt
und der, wo immer er auch nächtigt,
stets noch dieselbe Fahne hißt,

und trägt verzweifelt ihre Zeichen,
des Mörders Kain Verrat im Blick
und trägt die hunderttausend Leichen
und jeden Einschuß ins Genick

und flieht nur, und entkommt doch nicht
und kann nie mehr sein Ziel erreichen
und bleibt wohl lange schon auf weichen
Feldrainen hoffnungslos zurück,

bei alten Mühlen, grünen Teichen
aufscheuchend sich ein schmales Glück,
nach dem die Flügel heimlich streichen,
verdunkelt streichen ohne Licht,

anstoßend noch an jede Wand,
beschwörend, klagend, tosend,
und hassend dieses eine Land,
es doch mit jeder Wimper kosend.