zum Jahreswechsel

unausweichliche Begegnung, 1986, Buntstift & Bleistift, 21 x 29,7 cm (Blatt 3 der 13teiligen Folge: Meine kleinen gelben Blätter)

 

Zugedacht Hugo von Hofmannsthal

 

Mich locken die langen

die dunkelen bangen

alleen

 

ich möchte ihr ende nicht kennen

nicht wissen wohin sie verrennen

woher sie entstehn

 

nach einem seitlichen graben

da will ich sie über mir haben

wie plötzliche nacht

 

sie sollen sich über mir schließen

mich zeitig mit blüten begießen

und spät dann mit schnee

 

ich kann sie nicht gänzlich durchlaufen

denn irgendwo muß ich verschnaufen

und abseits vergehn

 

mich locken die langen

die dunkelen bangen

alleen

 

aus: Roger Loewig, Mein Kopf fliegt als Mond über dieses Land, Gedichte, Oberbaum Verlag GmbH 2002

 

Tschernobyl, 26. April 1986

Katastrophe (Tschernobyl), 1987, Buntstift, 40 x 30 cm

Wir wissen nie, was durch die Nacht zieht:
Ein Föhn, ein Regen, ein Gewitter,
ein Schneesturm oder schon der Tod,

sehr späte Gäste, die noch hoffen,
daß sie hier länger wohnen dürfen.
Verflucht sei alle Wohnungsnot!

Wir wissen nie, was durch die Nacht zieht:
Die Angst, der schweren Träume Schatten
Und, was am schlimmsten ist, ein Krieg.

So laß dein Fenster immer offen
dem müden Nachzügler, dem Flüchtling,
und bleib. Doch wenn es sein muß, flieg!

Flieg mit dem Kranich, mit der Wildgans,
flieg mit den Zögernden, den Matten,
flieg mit dem Schneesturm, mit dem Tod.

aus Roger Loewig: Ein Kopf fliegt als Mond über dieses Land – Gedichte.
Berlin, Oberbaum Verlag, 2002